Nicht nur sehen, sondern auch fühlen

- Ein Gespräch mit Filmeditorin Inge Schneider, Ehrenpreisträgerin bei Filmplus 2017

Besonders bei Langzeitbetrachtungen wie den »Spielwütigen«, der über sieben Jahre entstanden ist und vier junge Schauspielschüler begleitet, ist man als Editor mit besonders vielen Stunden Material und damit vielen möglichen Herangehensweisen konfrontiert. Wie gehen Sie damit um?
Eine grobe Dramaturgie war bei den »Spielwütigen« durch das Vorspiel bei den Eltern gegeben, die Aufnahmeprüfung, die Abschlussprüfung und andere entscheidende Wendepunkte. Der Regisseur Andres Veiel und ich haben gemeinsam das gesamte Material gesichtet, da nicht alles digitalisiert werden konnte und es gab viele Protokolle mit Timecodes und Inhaltsangaben vor Schnittbeginn. Andres kam jeden Tag mit einem neuen Konzept in den Schneideraum, was mich sehr beeindruckt hat. Es gab viele Rohschnitt-Vorführungen mit unterschiedlichen Menschen, die Andres explizit ausgesucht hat. Das heißt, wir hatten zahlreiche Rohschnittfassungen, so dass der Schritt von der letzten Rohschnitt-Fassung zur finalen Fassung nur noch ein kleiner war. Den Feinschnitt habe ich dann in großen Zügen ohne Andres erstellt. Wenn die Dramaturgie steht, überprüfe ich noch ein letztes Mal, ob das in der Sequenz befindliche Material wirklich das Beste ist.

Gibt es so etwas wie eine Verantwortung des Editors gegenüber seinen Protagonisten im Dokumentarfilm? Gerade bei besonders jungen Menschen wie im »Prinzessinenbad« könnte ich mir eine besondere Last auf den Schultern des Editors vorstellen, wenn die minderjährigen Protagonisten besonders intime oder auch derbe Dinge äußern.
Während der Arbeit an einem Film entsteht eine starke Zuneigung zu den Protagonisten, die bestimmt einen Schutz darstellt. Natürlich verspüre ich immer eine Unsicherheit. Als es dann kurz vor der Mischung von »Prinzessinnenbad« zu einer Vorführung im Schneideraum mit Klara und Tanutscha kam und die beiden Hand in Hand auf ihren Stühlen saßen und gebannt auf den Monitor schauten, war ich sehr aufgeregt. Als der Film zu Ende war, umarmten mich die beiden. Das empfand ich als ein großes Geschenk.
Einen für mich sehr krassen Fall hatte ich bei dem Dokumentarfilm »Meine Freiheit, deine Freiheit« (2011, Regie: Diana Näcke). Salema, eine der beiden Protagonistinnen, kommt am Ende des Films aus dem Gefängnis und fängt wieder an, Heroin zu spritzen. Und wir haben eine Szene hineingenommen, in der sie sich die Spritze setzt. Am Anfang war ich total dagegen, das zu zeigen. Aber durch die wirklich sehr intensive Auseinandersetzung mit dem Material und der Tatsache, dass das Leben der beiden Protagonistinnen während der Schnittzeit ja auch nicht stehenblieb, konnte ich fühlen, dass diese Szene für das Ende des Films sehr wichtig ist und doch gezeigt werden muss. Das war also ein langer Prozess, den ich da mitgemacht habe. Am Anfang konnte ich gar nicht hinschauen. Es ist so schrecklich, aber es ist auch so wahr. Man muss es einfach so hart zeigen.

Können Sie die Herausforderungen ihrer Arbeit an dem Dokumentarfilm »Raising Resistance« beschreiben, der mit seinem weltumspannenden Problematiken rund um Ernährung und Globalisierung sicherlich nicht einfach war?
Im Prinzip nähere ich mich den Themen mehr aus der Sicht des zukünftigen Zuschauers. Ich informiere mich nicht vorher zum Thema, sondern durch die Arbeit mit dem Material. Wenn ich etwas nicht verstehe, frage ich die Regisseure. Als mir das Projekt »Raising Resistance« angetragen wurde, hatte ich ein wenig Angst vor so einem »Umweltfilm«. Ich schau mir solche Filme ja auch manchmal an und komme dann immer mit so einem Gefühl aus dem Kino: »Ach nee, dann macht ja gar nichts mehr Spaß«. So etwas wollte ich nicht machen. Schließlich habe ich doch zugesagt und hatte plötzlich einen Haufen Material. Zudem war das meiste in der Sprache Guaraní. Obwohl ich ein gutes Sprachgefühl habe, ist es sehr schwierig, einen Film in einer mir völlig unbekannten Sprache zu schneiden. Ich hab eine ganz bestimmte Art, wenn ich die deutsche Sprache schneide, da manipuliere ich dann schon ab und zu. Also nicht gegen das Dokumentarische, aber ich stelle mir die Sätze oft so zusammen, wie ich sie brauche, damit sie den inhaltlichen Kern des ganzen besser treffen und im Idealfalle die folgende Szene zum Fliegen bringen.
Wenn ich dann von so viel Material in einer anderen Sprache überflutet werde, hab ich schon oft gedacht: Das machst du diesmal nicht, du lässt es einfach laufen. Du suchst keine neuen Worte, damit man noch einen Satz bauen und anhängen kann, weil man ihn einfach für den Übergang braucht, damit das nächste Bild optimal aufgeladen ist. Denn manchmal hab ich die Sätze nicht so, wie ich sie eigentlich aufgrund der erarbeiteten Dramaturgie bräuchte. Ich hatte mir also diesmal ganz fest vorgenommen, mit der Sprache nicht herum zu laborieren. Das ist zu kompliziert, dachte ich mir. Ich hab's dann doch gemacht.

Wie schwierig war es, die globale Problematik in den Film einzubinden?
Der globale Aspekt kam später dazu, denn wir haben schnell gemerkt, dass das nicht einfach nur ein Film über Kleinbauern werden darf. Das Thema ist so groß! Wir brauchten die Wissenschaftler, die Banken, wir brauchten den Konsum, diese ganzen Zahlen halt. Es war schwierig, all diese Aspekte in das erarbeitete Grundgerüst einzufügen, ohne dass die Emotion für unsere Geschichte verloren geht, denn wenn die globalen Aspekte ausufern, fragt man sich schließlich, in welchem Film man sich überhaupt befindet. Erst viel später kam die Idee, unsere Kernsequenz mit der Besetzung des Feldes quasi zu teilen, was dem Ganzen dann zu einem neuen Aufbau verhalf und dem Film eine viel größere Kraft verlieh. Endlich kam die ganze Geschichte zum Strahlen. Und ich war damals sehr froh, dass ich ab diesem Zeitpunkt nicht mehr nur sehen, sondern auch fühlen konnte. Zudem ist es schön zu sehen, was der Film bewirkt hat. Der Protagonist Geronimo erhielt auf dem Festival in Den Haag, als Kämpfer für den Erhalt der Menschenrechte, den mit 7000 Euro dotierten »Golden Butterfly«. Er wird von etlichen Bauernverbänden Europas eingeladen und unterstützt. So konnte er zweimal nach Europa reisen, er konnte das Meer sehen, er konnte einen Lastwagen kaufen, weil er das Preisgeld gewonnen hat. Sein Sohn konnte studieren und generell wird er in Paraguay nun ganz anders angesehen. Dass ein Film so etwas auslösen kann, macht mich glücklich.

Haben sie bemerkt, dass sich ihre Arbeitsweise im Laufe ihrer Karriere verändert hat?
Na klar! Es ist schon alles viel einfacher geworden mit dem digitalen Schnitt, man kann viel mehr ausprobieren, Dinge aufheben und wieder abrufen. Nichts von dem was ich mache, ist umsonst. Allerdings hat die Materialmenge wahnsinnig zugenommen. Das sind ja richtige Bilderfluten! Ich schaue mir erst mal alles an, und nehme alles weg, was mir unbrauchbar erscheint. Das ist eine gute Methode, um den Ballast loszuwerden und das Material kennenzulernen. Und dann fange ich einfach an, eine Szene zu schneiden. Oft ist es die, die mich beim Muster schauen am meisten beeindruckt hat. Während des Sichtens überlege ich schon: Kann ich eine kleine Geschichte erzählen, also jenseits der großen Geschichte? Das Schwierige dabei ist, zu reduzieren, um wirklich auf den Kern der Dinge zu kommen. Eine Geschichte zwischen Menschen auch mit Blicken zu erzählen, finde ich noch immer faszinierend. Wann immer ich im Material Dinge entdecke, die mir helfen, eine Szene auf meine spezielle Art zu gestalten, bin ich sehr froh.
Durch die Digitalisierung bin ich auf Schnittassistenten angewiesen, die technisch fitter sind als ich. Einen ständig anwesenden Schnittassistenten gibt es aber leider nur noch sehr selten. Heutzutage legt der Assistent das Material nur an und erscheint dann nur noch bei technischen Problemen im Schneideraum.
Ich finde es positiv, dass durch die Digitalisierung die Vertonung für den Dokumentarfilm einfacher geworden ist. Es ist besonders für Rohschnittvorführungen wichtig, dass es bereits ein kleines Tonkonzept gibt. Das war beim analogen Schnitt nicht so einfach zu machen. Schon die Möglichkeit der Angleichung der Töne in der Lautstärke ist eine große Erleichterung.

Wie würden Sie die Unterschiede bei der Tongestaltung zwischen Spielfilmen und Dokumentarfilmen umreißen?
Das ist eine schwierige Fragen, denn alles ist doch beim Feinschnitt schon sehr komplex, alle Gedanken zu Übergängen oder zu der Stimmung einer Szene sind so gut es mit den vorhandenen Tönen möglich war, skizziert. Einen großen Unterschied gibt es da nicht für mich. Wenn der Schnitt so einigermaßen steht, wird der Sound Designer eingeladen. Wir schauen uns den Film gemeinsam an, ich spreche über meine Wünsche, über eventuelle Schwierigkeiten, die es mit bestimmten Tönen geben könnte. Oft werden Entscheidungen auch erst in der Mischung gefällt, zum Beispiel das Ausblenden von Atmos und Musiken.
Die Musik im Film spielt während des gesamten Schnittprozesses eine große Rolle für mich. In den meisten Fällen arbeite ich, wenn Regie und Schnitt sich für den Einsatz von Musik entschieden haben, mit Layoutmusiken, die der Stimmung einer Szene entsprechen. Kommt dann der Musiker mit seinen Vorschlägen hinzu, kann sich noch sehr viel verändern.

Haben Sie im Laufe der Jahre eine Wandlung in der Wahrnehmung des Berufsbildes der Editoren erlebt? Sei es „branchenintern“ oder in der Öffentlichkeit?
Nein. Der Editor steht noch immer zu sehr im Hintergrund. Zum Beispiel wird bei den Credits in den Zeitungen, bei Filmkritiken oder bei Inhaltsangaben im TV in der Regel kein Schnitt erwähnt, sondern nur Regie, Kamera und Musik. Dabei gehören Regie, Kamera und Schnitt doch zusammen. Aber durch Filmpreise wie Filmplus erfährt das Berufsbild eine Aufwertung, die ich wichtig finde.

Sie haben im Jahr 2004 für »Die Spielwütigen« ja den allerersten Bild-Kunst Schnitt Preis Dokumentarfilm gewonnen. In der Jury saß damals auch der Schauspieler und Kolumnist Dietrich Kuhlbrodt. In einem TAZ-Artikel zu Filmplus 2004 propagierte er, dass man, statt von »Autorenfilm«, eigentlich von »Editorinnenfilm« sprechen müsse. Und fragte: »Wer von beiden das eigentlich ist, der dem Werk den Namen geben sollte: der Regisseur (Konzept)? Die Editorin (Gestalt)?«
Für die Arbeit im Schneideraum kann man das oft so stehen lassen. Voraussetzung ist natürlich, dass der Editor oder die Editorin nicht nur technisch versiert ist, sondern vor allem inhaltlich und dramaturgisch denken kann.
Das heißt nicht, dass der Film dann im Schneideraum entsteht, sondern er entsteht neu und/oder verändert sich in den Händen eines guten Editors oder einer Editorin. Allerdings darf man nicht vergessen, was die Regie dann vorher alles geleistet hat, bevor die Arbeit im Schneideraum überhaupt beginnen kann. Eine Idee im Kopf haben, dies aufschreiben und anderen zugänglich machen, um eine Finanzierung zu besorgen, das bedeutet oft, jahrelang an einer Idee festhalten und daran glauben, bevor überhaupt gedreht werden kann. Und die Regie muss viele Mitstreiter suchen. Und vor allem natürlich auch eine gute Editorin.

Wie Sind Sie eigentlich zum Filmschnitt gekommen?
Ich bin in der ehemaligen DDR aufgewachsen und wir hatten bei uns im Dorf ein Kino, da bin ich immer in die Sonntagsvorstellungen gegangen. Als Vorfilm lief dort die DEFA-Wochenschau »Der Augenzeuge«. Als ich 14 Jahre alt war, gab es einen kleinen Beitrag darüber, wie in Moskau Filme geschnitten werden. Wie das Filmmaterial so durch den Schneideraum gelaufen ist, das fand ich sehr faszinierend. Und von da an dachte ich: Das willst du auch mal machen. Zu Hause haben alle gesagt: »Du bist ja verrückt, mach erst mal dein Abitur«. Denn ich sollte ja Zahnärztin werden. Aber ich wollte Filme schneiden. Auch nach meinem Abitur. Zuerst habe ich in Halle eine Anstellung als Filmkleberin bekommen und von dort bin ich nach Dresden als Assistentin für eine der ersten DDR-Serien, »Die roten Bergsteiger«. Das ging über anderthalb Jahre und dann hab ich an der Filmhochschule studiert, der heutigen Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf.

Sie haben überwiegend Dokumentarfilme montiert, aber auch immer wieder Spielfilme, wie zuletzt »Scherbenpark« (2013). Wie unterscheidet sich ihre Herangehensweise an das Material dann?
Der erste große Arbeitsschritt ist in beiden Fällen die Erstellung eines Rohschnittes. Beim Spielfilm ist der Rohschnitt in der Regel nicht so langwierig wie bei Dokumentarfilmen. Ich versuche, dem Drehbuch zu folgen. Dann stellt sich heraus, ob das Buch sich über das gedrehte Material einlösen lässt. Falls das nicht der Fall ist, muss man neue Wege finden. Und dann ist die Arbeit am Spielfilm ab Rohschnitt viel schwieriger als beim Dokumentarfilm. Auch weil so viele Menschen beteiligt sind, die mitentscheiden wollen: Autoren, Redakteure, Produzenten… In dieser Hinsicht, wenn man an die Entwicklung einer Dramaturgie denkt, ist man beim Dokumentarfilm also viel freier.

Können Sie ein Beispiel für einen Spielfilm oder einen Dokumentarfilm geben, bei dem sich in der Montage die Arbeit als besonders schwierig oder langwierig erwies?
Ich erinnere mich an den Dokumentarfilm „Nach der Musik“ von Regisseur Igor Heitzmann, es war sein Abschlussfilm an der dffb, der eine Vater-Sohn-Geschichte erzählt. Obwohl der Film schon montiert war und seine Abnahme hatte, war der Regisseur nicht zufrieden und bat mich, einen Blick drauf zu werfen. Nach unseren Gesprächen, die über mehrere Tage dauerten, war Igor fest entschlossen, weiter daran zu arbeiten. Mir fällt es sehr schwer, fertige Arbeiten von Kollegen zu verändern, denn ich weiß, dass sehr viel Kraft und Mühe drin stecken. Deshalb erbat ich mir eine Probewoche Schnitt, aus der dann insgesamt acht Monate Arbeit wurden, in denen ich sehr viel gezweifelt habe und auch den Druck von Verantwortung für etwas Neues sehr stark spürte. Am Ende ist ein anderer und schönerer Film entstanden. Es sind etliche Sequenzen hinzugekommen, die in der Ausgangsfassung nicht vorhanden waren und die Übergänge und die Dramaturgie haben sich im Arbeitsprozess sehr verändert. Ich glaube, dass ich dem Film die Schwere genArbeiten Sie gerne überwiegend allein im Schneideraum und zu welchen Zeitpunkten suchen Sie Rücksprache, etwa mit dem Regisseur?
Das ist unterschiedlich. Fest steht, dass ich im Schneideraum nicht gern alleine bin. Manchmal hab ich Angst, dort zu vereinsamen. Mir gefällt es einfach, wenn ich gefragt werde, was ich gerade mache, wie es mir geht oder ob ich einen Kaffee möchte oder auch nur das jemand hinter mir sitzt, sodass ich erklären kann, was ich gerade tue und es zu einem Austausch kommen kann.

Wen haben Sie dann gerne hinter sich sitzen, wenn sie Feedback benötigen?
Wenn ich Hilfe brauche, verwandle ich mich in ein Klageweib, was für die Regie bestimmt nicht immer leicht zu ertragen ist. Oft schlage ich dann vor, Kollegen einzuladen: meist Editoren*innen, Kamerafrauen/-männer oder auch Dramaturgen, die ich schon lange kenne und auf deren Urteil ich großen Wert lege. Die harten Kritiker dürfen erst kommen, wenn ich fest im Material stehe. Schneide ich eine kleine Szene, die im Endeffekt vier bis fünf Minuten lang ist und bei der eine große Menge Ausgangsmaterial vorhanden ist, bitte ich gern die Schnittassistenz an meine Seite. Einfach um jemanden bei mir zu haben, der parallel im Script nachlesen kann, was gerade gesagt wurde, der mir Timecodes von meinen Lieblingssätzen ansagt, die ich unbedingt im Film haben möchte, oder ähnliche Sätze versucht zu finden.

Wie wählen Sie Ihre Projekte aus? Gerade bei Dokumentarfilmen könnte ich mir vorstellen, das aus den Konzepten vor dem Dreh noch gar nicht richtig absehbar ist, was für eine Art von Film entstehen könnte. Ist das Thema dann entscheidend?
In den meisten Fällen ist meine Entscheidung unabhängig von den Themen. Zuerst treffe ich die Regisseur*innen, die mich ansprechen, denn mit ihnen werde ich eine ziemlich lange Zeit in einem Raum sein. Wenn mich der Mensch mit seinem Drehbuch und seiner Kraft überzeugt, bin ich bereit, mich erneut in einen Schnittdschungel zu stürzen.

Interview: Werner Busch