Feinabstimmung der Figuren

Ein Gespräch mit der Gewinnerin des Filmstiftung NRW Schnitt Preis Spielfilm 2017, Heike Parplies, ausgezeichnet für die Montage von Toni Erdmann, Regie: Maren Ade

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Die Begründung der diesjährigen Spielfilmjury bei Filmplus begann originell: »Wir haben uns entschieden, einen Underdog auszuzeichnen. Ein Underdog deshalb, weil dieser Film das Risiko eingeht, die Zuschauererwartungen nicht nur nicht zu bedienen, sondern zuweilen auch zu frustrieren.« Du warst dann bei Deiner Dankesrede auch merklich überrascht von dem Begriff »Underdog« in Verbindung mit Toni Erdmann. Aber wenn Du auf die durchaus schwierige Entstehungsgeschichte des Films zurückblickst, gab es für Dich und Maren Ade während der langen Montage-Phase nicht auch Momente, wo Euch ein »Underdog«-Gefühl beschlichen hat?  

Heike Parplies: Naja, der Film hat einfach nach seiner Premiere einen unfassbaren Lauf gehabt, auch international, was wirklich für so eine Art von Film bemerkenswert ist. Aber natürlich, davor haben weder Maren noch ich damit gerechnet, dass er so erfolgreich sein würde – damit hat niemand gerechnet!
Es ist ja kein Film, der für den Mainstream konzipiert wurde. Wir hatten daher auch keine großen Vorführungen mit Testpublikum, sondern haben während des Schnittprozesses nur immer mal wieder ein paar Bekannte eingeladen, auf deren Urteil wir Wert legen. Nicht zu viele auf einmal, damit man die Leute nicht verbrät.
Deshalb war ich dann in Cannes bei der Premiere schon ziemlich überrascht, wie viele, selbst kleinste Details nicht nur verstanden, sondern herzhaft belacht wurden. Ich selbst habe Toni Erdmann ja nie als Komödie gesehen, auch wenn ich ihn sehr komisch finde. Der Humor ist natürlich im Drehbuch angelegt und insbesondere bei den Szenen mit Toni auch gespielt. Aber wir haben den Film bewusst nicht auf Humor geschnitten, sondern stets dem menschlichen »Beziehungsdrama« und der Echtheit der Figuren den Vorrang gegeben, und waren daher baff, wie lustig auch das nicht-deutsche Publikum ihn fand.
 

Ihr hattet – für deutsche Produktionsverhältnisse – einen ungewöhnlich großen Freiraum, Euch bei der Montage mit den Feinheiten und Notwendigkeiten des umfangreichen Rohmaterials auseinanderzusetzen.

Heike Parplies: Von Anfang an hatte Maren neun Monate Schnittzeit geplant; die waren auch im Budget kalkuliert. Also war schon klar, dass wir das nicht in drei Monaten runter rocken. Trotzdem brauchte der Film dann noch etwas mehr Zeit, bis alles gestimmt hat. Ich selber habe – mit kleinen Pausen – fast anderthalb Jahre an Toni Erdmann geschnitten; davon war ich etwa 14 Monate zusammen mit Maren im Schneideraum.
Ich werde immer wieder gefragt, wie viel Material wir hatten; ich habe keine exakte Zahl im Kopf, aber so um die 120, 130 Stunden. Das war je nach Szene sehr unterschiedlich: Für manche gab es nicht exorbitant viel, aber zum Beispiel zu der Szene, wo Ines (Sandra Hüller) mit ihrem Boss und ihrem Vater Winfried (Peter Simonischek) in ein Edellokal geht, und zum ersten Mal vom Thema »Outsourcing« spricht, gab es 10 Stunden Material. Im fertigen Film ist sie knapp 6 Minuten lang. Klar, das ist auch eine Szene mit vielen verschiedenen Achsen und Winkeln; sieben Personen, die um einen Tisch herum sitzen. Aber es sind zudem alles durchgehende Master-Shots, jeder mit vielen Takes. So entsteht schnell ein Berg an Material.
Die Montage hätte also in ganz verschiedene Richtungen gehen können. Deshalb haben wir gleich von Beginn an verschiedene Versionen von allen Szenen geschnitten, weil man sonst nach jeder Sichtung, wenn man merkt, dass man eine andere Richtung einschlagen möchte, wieder durch diese Massen von Material gehen müsste. Natürlich haben wir später auch hin und wieder ins Material geguckt und Szenen optimiert. Aber hauptsächlich waren wir in der zweiten Schnittphase damit beschäftigt, bereits vorhandene Szenenvarianten auszutauschen.

Was waren die Auswahlkriterien und Prämissen für die unterschiedlichen Varianten?

Heike Parplies: Es ging vor allem um die Figurenführung, um das Verhältnis zwischen Vater und Tochter, und wie es sich im Lauf des Films entwickelt oder verändert. Wie souverän er ist, wie dreist er ist, wie genervt sie ist, wie unfreundlich sie werden darf. Und bei beiden Figuren mussten wir aufpassen, dass wir bei ihnen bleiben und uns auch dann für sie interessieren, wenn sie sich gerade total blöd verhalten. Man findet ja beide nicht immer unbedingt sympathisch, aber man muss sie trotzdem mögen und verstehen, sonst funktioniert der Film nicht. Das war oft eine Gratwanderung. Wie weit darf z.B. Winfried es treiben, ohne dass man denkt: »Was für ein Idiot!«. Es musste immer auch durchscheinen, warum er das eigentlich macht.
Also haben wir eine gemäßigtere Variante geschnitten, oder eine wo er unsicherer war, oder eine wo sie oder er total drüber waren. Denn es ändert sich ja auch im Verlauf des Films immer wieder, bei welcher Figur man emotional gerade mehr ist. Es galt da insgesamt ein Gleichgewicht zu halten.
Die Figur des Winfried ist in ihrem Wesen nah an Marens eigenen Vater angelehnt, weswegen Maren eine sehr genaue Vorstellung davon hatte, wie sie zu spielen ist und wie auf gar keinen Fall. Und es gab von Peter Simonischek wahnsinnig lustige Momente im Material, die aber nicht zu der Rolle passten. Winfried ist ja ein Mensch, der versucht, lustig zu sein, es aber meistens nicht wirklich ist. Es geht da mehr um missglückten Humor als um gelungene Schenkelklopfer. Deshalb haben wir viele sehr lustige Momente von Peter nicht verwendet. Es entsteht dadurch eine andere, subtilere Art von Humor.

Maren Ade ist ja bekannt als Perfektionistin. Wie würdest Du Eure Zusammenarbeit beschreiben?

Heike Parplies: Es geht weniger darum, den »richtigen Schnitt« im Sinne von Rhythmus und Funktion der Erzählung zu finden, sondern primär darum, die richtigen Figuren zu erzählen. Daher führen wir lange, intensive Gespräche über die Figuren; darüber, wie das Weglassen oder Hinzufügen bestimmter Sätze die Figuren verändert, vielleicht cooler oder lustiger macht – was man nicht immer will! Wir haben auch über die Perspektive des Zuschauers gesprochen, und die unterschiedliche Wahrnehmung der Figuren, sogar bei uns selbst: Während Maren meistens bei Ines ist, bin ich meistens bei Winfried. Dadurch haben wir übrigens auch teilweise eine unterschiedliche Wahrnehmung beim Muster gucken, weil ich z.B. Peters Spiel großartig finde, und Maren sagt: »Ach tatsächlich, hmm, ich hab aber nur auf Sandra geguckt.« Diese sehr unterschiedliche Wahrnehmung und Identifikation ist fast durchgehend möglich und gewollt. Auf der Ebene haben wir uns gut ergänzt.
Wo wir uns etwas unterscheiden, ist in der Frage, ob es für alles überhaupt eine »perfekte« Lösung gibt. Maren wurde mal von einem Besucher im Schneideraum gefragt: »Wie wisst ihr das denn immer, was für den Film richtig ist?«. Und sie hat geantwortet: »Ja, das ist oft nicht einfach, aber wenn man sich lange und intensiv damit beschäftigt, wird es irgendwann ganz klar; dann fällt es einem wie Schuppen von den Augen, wie es sein muss!« Das sehe ich persönlich ein bisschen anders: Für mich gibt es nicht immer die richtige Entscheidung. Manche Entscheidungen finde ich nicht spielentscheidend, weil sie einfach auf verschiedene, gleich gute Weise dasselbe erzählen. Oder verschiedene Dinge erzählen, die aber beide gut und richtig sein können.

Bei einem Film, der Überlänge hat, gibt es leider hinterher oft einen erwartbaren Kommentar von Zuschauern oder Kritikern: »Schöner Film, aber hätte kürzer sein können.« Auch Toni Erdmann blieb trotz seiner vielen Preise nicht von dieser allzu simplen Schnitt-Kritik verschont. Wie sehr hat Euch selbst die Frage der Länge beschäftigt?

Heike Parplies: Weder Maren noch ich hatten vor, einen 162-minütigen Film zu machen. So eine Länge will erst mal keiner! Der Verleih sowieso nicht, aber wir auch nicht. Das war mit ein Grund, warum wir so lange geschnitten haben: Wir haben ganz viele Kürzungsmöglichkeiten ausprobiert. Aber es ist bei diesem Film unheimlich schwer, ganze Stränge zu entfernen. Weil alles in dem Drehbuch aufeinander aufbaut. Es wird ständig etwas gesetzt, was später eine Rolle spielt.
Wir haben bereits bei der Arbeit am Rohschnitt ziemlich verdichtet, daher war die erste komplette Fassung nicht so viel länger: 3 Stunden, fünf Minuten. Die kürzeste Fassung die wir hatten, war 2 Stunden, 15 Minuten. Sie war aber deutlich langweiliger als die jetzige Fassung! Das ist ein typisches Phänomen: Wenn Du bestimmte Szenen zu stark reduzierst, so dass sie nur noch dazu dienen, die nötigen Informationen zu vermitteln, dann geht viel von ihrer inneren Spannung, ihrer Atmosphäre verloren, und sie wirken plötzlich redundant.
Es gibt in Toni Erdmann ein paar Anlagen, die dazu führen, dass er sich Kürzungen widersetzt: Zum Beispiel der überwiegende Verzicht auf elliptisches Erzählen. Die Szenen sollen nicht beispielhaft, knapp und »von außen gesteuert« etwas erzählen; Situationen sollen nicht behauptet werden, sondern müssen sich im Film entwickeln. Daraus resultiert meiner Meinung nach die Wahrnehmung des »Authentischen« in der Erzählung, auch wenn die Entwicklung der Handlung ja alles andere als naheliegend ist.
Dann ist es ein gewisser Respekt den Figuren gegenüber: Die Berufsebene von Ines etwa, soll nicht als bloßes Vehikel dienen, die ehrgeizige und kompetente Figur zu frustrieren und eine Angriffsfläche für den Vater zu bieten. Sondern sie soll genauso ernst genommen werden, wie Ines sie nimmt. Die Wahrhaftigkeit der Figuren stand bei den Montage-Entscheidungen immer im Vordergrund. Alles andere – Humor, Schauwert, Rhythmus – hatte sich dem unterzuordnen.
Wenn du so lange schneidest und so viel ausprobierst, musst du natürlich unheimlich oft den Film angucken. Und wenn du ihn irgendwann zum fünfzigsten Mal siehst, dann ist es verlockend zu denken: »Ach cool, er ist jetzt kürzer; gut, dass wir voran kommen«. Bei vielen Entscheidungen braucht man einen gewissen Abstand, um noch mal in sich zu gehen und zu überlegen, »War es denn wirklich besser? Fehlt uns jetzt nicht etwas?« Manchmal hat es einige Sichtungen lang gedauert, bis wir merkten, dass die Charaktere durch kleine Kürzungen schwammiger wurden oder sich geringfügig in die falsche Richtung veränderten, und wir haben dann die Kürzungen rückgängig gemacht. Das hat dem Film gut getan – 162 Minuten hin oder her!

Interview: Dietmar Kraus